Cover
Titel
Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800


Autor(en)
Hannig, Nicolai
Erschienen
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
654 S.
Preis
€ 39,90
von
Melanie Salvisberg, Historisches Institut, Universität Bern

Die Natur gilt es zu schützen – darin besteht weitgehend Einigkeit. Der Blick zurück zeigt, dass dieses Ziel noch nicht allzu lange vorherrscht. «Die historisch dominante Haltung gegenüber der Natur war die der Vorsorge», meint Nicolai Hannig. «Eher kämpfte man gegen sie und nutzte sie aus, als dass man sie zu schützen versuchte» (S. 13). Der Wandel im Umgang mit Naturgefahren in den letzten 250 Jahren ist Thema von Hannigs Studie, die auf seiner Münchner Habilitationsschrift beruht. Der Autor untersucht, wie Menschen Naturgefahren zu verhindern, vorzubeugen und sich zu schützen versuchten – also mit und zum Teil auch von der Naturgefahr lebten. Dabei wählt er eine breite Perspektive: Die Studie behandelt nicht nur die baulichen Präventionsmassnahmen und die Versicherungen, sondern thematisiert etwa auch die Erfindung neuer wissenschaftlicher Disziplinen, missglückte Versuche der Wetterbeeinflussung oder die Katastrophenbegeisterung in Medien und Kunst. Hannig analysiert und kombiniert damit mehrere Aspekte der Vorsorge vor Naturgefahren, die bislang nur im Einzelnen oder gar nicht erforscht wurden.

Räumlich stehen Deutschland und die Schweiz im Fokus, wobei aber davon ausgehend immer wieder auch andere Regionen und die globale Entwicklung angesprochen werden. Der Untersuchungszeitraum umfasst das späte 18. Jahrhundert bis zu den 1980er-Jahren. Das Werk gliedert sich chronologisch in drei Teile, die jeweils nach dem zentralen Charakteristikum des Umgangs mit Naturgefahren benannt sind: «Gefahren verhindern» im 19. Jahrhundert, «Gefahren berechnen» um die Jahrhundertwende und «Gefahren vermeiden» im 20. Jahrhundert.

Als Ausgangspunkt wählt der Autor das Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755, das wichtige Folgen für die Prävention und Vorsorge hatte, etwa durch das neue Interesse der Geologie für das Thema. Ab dem späten 18. Jahrhundert entwickelte sich eine neue Strategie im Umgang mit Naturgefahren: die Prävention. Schon bald wurde sie zum Allheilmittel. Mit dem Vorhaben, Naturgefahren gänzlich zu verhindern, wurden ganze Flusssysteme tiefgreifend umgestaltet. Die Anlage dieser Verteidigungslandschaften sollte sowohl Sicherheit schaffen als auch die Lebensbedingungen verbessern und diente jeweils auch der staatlichen Legitimation. Hannig arbeitet in diesem ersten Teil heraus, wie sich im 19. Jahrhundert eine umfassende Sicherheits- und Vorsorgepolitik ausbildete und kommt zum Schluss, dass vieles dafürspricht, dass die Präventionspolitik gegenüber Naturgefahren nicht nur der Vorläufer, sondern Begründer des modernen Vorsorgestaats war.

Der zweite Teil behandelt die Jahrzehnte zwischen 1880 und 1920, in welchen immer deutlicher wurde, dass die Sicherheitsversprechen der Präventionsprojekte nicht vollständig erfüllt werden konnten. Die Vorsorgemassnahmen gerieten in die Kritik. Zusätzlich zur technischen Prävention trat nun die finanziell kompensatorische Prävention verstärkt auf die Bühne: Die Versicherungen arbeiteten nach einem zögerlichen Beginn entschlossen daran, ihr Handlungsfeld auf die Naturgefahren auszudehnen. Gerade die grossen Rückversicherer Schweizer Rück und Münchener Rück engagierten sich in diesem schwierigen Feld. Damit Kalkulationen möglich wurden, benötigten die Versicherungen eine gute Datenbasis, für deren Erarbeitung sie sich einsetzten. Bereits ab den 1920er-Jahren galten viele Naturgefahren dank diesen Anstrengungen als versicherbar.

In der Zeit der 1920er- bis 1980er-Jahre, die im dritten Teil des Buches behandelt wird, wandelte sich die Wahrnehmung und der Umgang mit Naturgefahren erneut. Die Prävention geriet endgültig in die Krise, zumal deutlich wurde, dass die technischen Massnahmen sogar schädliche Auswirkungen haben konnten – beispielsweise erhöhten Talsperren manchmal die Hochwassergefahr flussabwärts. Anstatt die Naturgefahren zu verhindern, sollte sich das Leben der Menschen der Gefahrensituation anpassen. Die Steigerung der Resilienz wurde deshalb zum Ziel. Intensiv mit dem Thema beschäftigte sich die sozialwissenschaftliche Katastrophenforschung. Die Vorsorge gegenüber Naturgefahren wurde insgesamt breiter und vielfältiger. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurde die Gefahrenabwehr immer mehr auch mit dem Umweltschutz verknüpft und der Umgang mit Naturgefahren gelangte in den Bereich der globalen Verantwortung. In dieser spannenden Zeit, die geprägt war von einer Zunahme der Schäden und der Frage nach der Ursache, endet die Studie. Vorsorge und Prävention setzen seither, wie in Einleitung kurz angetönt wird, auf computerbasierte Klimamodelle und Simulationen.

Das Buch zeigt auf, wie die Vorsorge seit dem 18. Jahrhundert einem Wandel unterworfen war und verschiedene Konjunkturen durchlebte. Die Entwicklung war allerdings keineswegs linear, was der Autor ausgezeichnet herausarbeitet. Stets gab es auch Kritiker und ein Nebeneinander verschiedener Zugänge. Nicht nur zeitlich, sondern auch thematisch spannt Hannig einen grossen Bogen. Die Verknüpfung der verschiedenen Vorsorgemassnahmen und Akteure mit ihren jeweiligen Erwartungen erweist sich als äusserst gewinnbringend. Der Autor zeigt etwa auf, dass die Versicherer trotz einer gewissen Widersprüchlichkeit ein grosses Interesse an der technischen Prävention hatten, da es für sie in erster Linie ein Gewinn an Planungssicherheit bedeutete. Insgesamt sorgte der Mensch ab 1800 immer weniger allein für seinen Schutz vor der Natur und übergab die Verantwortung immer mehr staatlichen Behörden, wissenschaftlichen Instanzen oder privatwirtschaftlichen Unternehmen.

Hannigs sehr gut lesbare Studie bietet Einblick in verschiedene Bereiche wie Wissenschaft, Technik, Kultur und den Alltag und macht deutlich, wie sich das Sicherheitsverständnis veränderte und wie die Vorsorge vor Naturgefahren den gesellschaftlichen Wandel prägte. Das Buch deckt viele spannende Verflechtungen und übergreifende Trends auf, wodurch es nicht nur ein Muss für ein Spezialpublikum, sondern auch für eine breite Leserschaft sehr empfehlenswert ist.

Zitierweise:
Salvisberg, Melanie: Rezension zu: Hannig, Nicolai: Kalkulierte Gefahren. Naturkatastrophen und Vorsorge seit 1800, Göttingen 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 481-482. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.